Der Unterschied
Ein alter Mann ging bei Sonnenuntergang den Strand entlang. Vor sich sah er einen jungen Mann, der Seesterne aufhob und ins Meer warf.
Nachdem er ihn schließlich eingeholt hatte, fragte er ihn, warum er das denn tue.
Die Antwort war, dass die gestrandeten Seesterne sterben würden, wenn sie bis Sonnenaufgang hier liegen blieben.
„Aber der Strand ist viele, viele Kilometer lang und tausende Seesterne liegen hier“, erwiderte der Alte.
„Was macht es also für einen Unterschied, wenn Du Dich abmühst?“
Der junge Mann blickte auf den Seestern in seiner Hand und warf ihn in die rettenden Wellen. Dann meinte er:
„Für diesen hier macht es einen Unterschied!“
William Ashburne
Trotz alledem
Trotz alledem kann es sein,
dass vor deinem Fenster ein Vogel singt,
dass seine Melodie dich erreicht,
dir etwas Neues gelingt.
Trotz alledem kann es sein,
dass aus dem Himmelsgrau
dich ein Sonnenstrahl trifft,
dich Worte berühren wie aus einem Gedicht,
dass dir ein lieber Gruß in den Briefkasten fällt,
Einer daherkommt, die Hand dir hält.
Trotz alledem kann es sein,
dass Hoffnung in dir wächst
und so etwas wie ein Engel sich neben dich setzt,
dass dein Glaube zunimmt und nicht ab,
weil dir ein Mensch begegnete,
ihn dir wieder gab.
Trotz allem.
Carola Merkel aus: „und jedem Alter wohnt ein Zauber inne“
Vertrauen
im Schnee
an die
kraft
der krokusse
glauben
unter alter
haut
den neuen
menschen wachsen
lassen
im dämon
der nacht
den engel
spüren
im fallen
auf seine
großen hände
hoffen
wilhelm bruners
Über die Geduld
Man muss den Dingen
die eigene, stille
ungestörte Entwicklung lassen,
die tief von innen kommt
und durch nichts gedrängt
oder beschleunigt werden kann,
alles ist austragen – und
dann gebären…
Reifen wie der Baum,
der seine Säfte nicht drängt
und getrost in den Stürmen des Frühlings steht,
ohne Angst,
dass dahinter kein Sommer
kommen könnte.
Er kommt doch!
Aber er kommt nur zu den Geduldigen,
die da sind, als ob die Ewigkeit
vor ihnen läge,
so sorglos, still und weit…
Man muss Geduld haben
Mit dem Ungelösten im Herzen,
und versuchen, die Fragen selber lieb zu haben,
wie verschlossene Stuben,
und wie Bücher, die in einer sehr fremden Sprache
geschrieben sind.
Es handelt sich darum, alles zu leben.
Wenn man die Fragen lebt,
lebt man vielleicht allmählich,
ohne es zu merken,
eines fremden Tages
in die Antworten hinein.
Rainer Maria Rilke (1875 – 1926)
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